9. Oktober 2019 von Philip
Da liegen sie vor uns auf zwei langen Tischen: Möhren und Rüben in verschiedensten Formen und Farben, geputzte pralle Körper, das Laub noch schön gekämmt, schließlich stehen sie an diesem Vormittag im Pieschener Gemeinschaftsgarten „Wurzelwerk“ im Mittelpunkt des Geschehens. Im Rahmen des 11. Umundu-Festivals für nachhaltige Entwicklung hatte der Garten zu einem zweistündigen Workshop zum Thema „neue und alte samenfeste Gemüsesorten“ eingeladen. Trotz Dauerregens und ungemütlicher Temperaturen drängen sich schnell 12 neugierige TeilnehmerInnen um den „Laufsteg der Knollen“. Lisa Ennen, Gärtnerin der solidarischen Landwirtschaft „deinHof“ in Radebeul, nimmt uns mit auf eine Reise, auf der wir lernen, dass Möhre nicht gleich Möhre ist und welche Schätze es unter den alten Gemüsesorten zu entdecken gibt.
Als Einstieg üben wir uns im Beschreiben der Verschiedenheiten der vor uns liegenden Möhrensorten: Da gibt es die Exemplare mit üppigem, langem Krautwuchs, während andere eher eine lichte Kurzhaarfrisur bevorzugen. Neben der klassischen orangroten Möhre, sind auch weiße und gelbe Exemplare vertreten. Wer glaubte, dass die Möhrenwurzel halt einfach „lang und gerade“ ist, wurde eines besseren belehrt: es gibt kegelförmige, zylindrische und kugelige Möhren. Manche haben eine markant ausgeprägte breite Schulter, andere verzichten auf diese Äußerlichkeit. Einige haben eine glatte, gut schälbare Oberfläche, andere stehen zu ihren Falten, Furchen und wild wachsenden Wurzelhaaren. Aber immerhin sind alle Exemplare hier auf dem Tisch ganz klar als Möhre,bzw. für die Botaniker unter uns als Daucus carota erkennbar. Ganz anderes sieht es da auf dem Nachbartisch aus: die rote Bete erkennen wir alle, aber was sind diese gelben und weißen Knolle daneben? Und wieso liegen da die Mangoldpflanzen so vertraut kuschelnd neben der roten Bete? „Alles eine Pflanzenart“, erklärt Lisa Ennen den staunenden Teilnehmern, „alles Beta vulgaris („Rübe“), nur eben verschiedene Sorten.“
In einem kompakten Theorieteil erfahren wir von Lisa mehr zur Geschichte der Gemüsesorten und der Pflanzenzüchtung. Durch Selektion und Kreuzung wurde eine unglaubliche Vielfalt an Sorten geschaffen, lange bevor chemische Verfahren und Gentechnik in die Pflanzenzüchtung einzogen. Eine wissenschaftliche Literatur- und Datenbankrecherche belegt für Deutschland im Zeitraum von 1836 bis 1956 die Existenz von 6998 Gemüsesorten bei 104 Gemüsearten, das heißt im Durchschnitt 67 (!) Sorten pro Art (https://pgrdeu.genres.de/rlistgemuese). Die schlechte Nachricht kann uns Lisa allerdings nicht ersparen: 75% dieser alten Gemüsesorten sind verschollen und von den noch existierenden steht ein Großteil auf der „Roten Liste der gefährdeten einheimischen Gemüsepflanzen“. Ab Mitte des 20 Jahrhundert wurde die Pflanzenzüchtung immer stärker auf die industrielle Agrarproduktion ausgerichtet. Nicht Vielfalt, sondern Einheitlichkeit, hoher Ertrag und die Eignung für die maschinelle Produktion und Verarbeitung stehen seitdem im Vordergrund. Hybridsorten erfüllen diese Kriterien und werden nicht nur im konventionellen, sondern auch im ökologischen Gemüseanbau standardmäßig eingesetzt. Hybrid-Sorten sind Pflanzen, die aus zwei genetisch unterschiedlichen, aber reinerbigen Elternpflanzen (Inzucht-Stammlinien) gezüchtet werden. Durch den sogenannten Heterosiseffekt sind die Tochterpflanzen (oft mit „F1“ gekennzeichnet) den Elternpflanzen deutlich in Wüchsigkeit und Ertrag überlegen. Allerdings lassen sich Hybridsorten nicht weitervermehren, sie sind nicht samenfest. Schon in der nächsten Generation spalten sich die äußerlich einheitlichen Kulturen wieder in eine Vielzahl unterschiedlicher Pflanzenformen auf. Landwirte und Gärtner sind dadurch gezwungen, immer wieder neues Hybrid-Saatgut zu kaufen, statt selbst Saatgut zu vermehren. Hinzu kommt, dass das meiste Hybrid-Saatgut von wenigen großen, weltweit agierenden Agrarkonzernen vertrieben wird.
Jetzt schauen die Workshopteilnehmer etwas deprimiert, aber Lisa berichtet schnell von hoffnungsvollen Gegenbewegungen: Kultursaat e.V. züchtet neue samenfeste Gemüsesorten die auch für größere Betriebe geeignet sind und vor allem viel Wert auf einen guten Geschmack legen. Die Bingenheimer Saatgut AG, Reinsaat und Sativa verkaufen ausschließlich neue und bewährte samenfeste Sorten. Und der VERN e.V. setzt sich für den Erhalt alter, samenfester Nutzpflanzen ein und vernetzt Betriebe und Privatpersonen, die alte Sorten anbauen und vermehren. Auch die solidarische Landwirtschaft deinHof baut auf ihren Flächen in Radebeul ausschließlich samenfeste Gemüsesorten an beteiligt sich an Versuchen zum Anbau alter Sorten und zur Entwicklung neuer samenfester Sorten. Dass sich dieser Aufwand unbedingt lohnt, wird jedem Workshopteilnehmer spätestens bei der abschließenden Verkostung der von Lisa mitgebrachten Möhren und Beten klar. Diese Geschmacksvielfalt! Wie Weinkenner stehen wir da und riechen, malmen, schmecken, schlucken, suchen nach Worten, um das Gefühl am Gaumen zu beschreiben. Angefüllt mit neuem Wissen, vielfältigen Sinneseindrücken und einem Exemplar unserer jeweiligen Lieblingsmöhre oder bete begeben wir uns nach zwei bereichernden Stunden auf den Weg nach Hause. Im nächsten Jahr wird dann ganz sicher so manche alte oder neue Sorte in unseren Gärten und auf unseren Balkonen einen Platz finden.
Anja Wünsch